C. Bechstein Pianofabrik AG

C. Bechstein Pianofabrik AG

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Berlin 1853. Ein 27-jähriger Instrumentenbauer namens Friedrich Wilhelm Carl Bechstein aus Gotha, Neffe des thüringischen Schriftstellers, Märchensammlers und Sagenforschers Ludwig Bechstein, beschließt, das Märchen seines Lebens Realität werden zu lassen. Oder soll man sagen: die Vision? Er gründet seine eigene Werkstatt.

Berlin 1853. Noch sind die Erschütterungen durch die Revolution von 1848 nicht vergessen. Der „Romantiker auf dem Thron“, der Preußenkönig Friedrich Wilhelm IV, hat sein Versprechen gebrochen, dem Volk eine liberale Verfassung zu geben, hat ihm stattdessen ein Dreiklassen-Wahlrecht aufgezwungen. Sein Bruder Wilhelm heißt allenthalben nur der „Kartätschenprinz“. Dieser Wilhelm, der spätere Kaiser, hatte beim Sieg der Staatsordnung über die aufbegehrenden Bürger eine wenig rühmliche Rolle gespielt; sein Feldzug gegen die badischen Freiheitskämpfer 1849 endete mit Massenerschießungen. Längst gescheitert ist nun das Frankfurter Parlament in der Paulskirche, fehlgeschlagen jede Hoffnung auf ein geeintes Deutschland. Die einzelnen deutschen Staaten wursteln vor sich hin wie bisher, ob sie nun Sachsen heißen oder Kurhessen oder Lippe-Detmold. Die Binnenwirtschaft wird immer noch hier und da durch hohe Zölle erschwert. Und Tausende machen sich auf den Weg in die Neue Welt, vor allem in die liberalen Vereinigten Staaten. Etliche dürfen sich als politisch Verfolgte ansehen. Die meisten treibt der Hunger über den Atlantik oder zumindest die wirtschaftlich aussichtslose Lage.

Den Komponisten Richard Wagner zum Beispiel hat es nach Zürich verschlagen; in Deutschland wird er als Revolutionär steckbrieflich verfolgt. In Paris lebt der Dichter Heinrich Heine in seiner „Matratzengruft“ und muss aus der Ferne ansehen, wie Deutschland mehr und mehr zu einem Wintermärchen wird, zu einem Archipel rückständiger Inseln.

DAS GESCHICHTLICHE UMFELD
Eigentlich ist es eine Zeit zum Verzweifeln. Nicht dass es an Ideen und Unternehmergeist fehlte. Da gibt es in Essen längst die Eisenwerke von Krupp, und in Berlin hat ein gewisser Borsig eine zunehmend florierende Gießerei aufgebaut. Die neue Zeit kündigt sich an. Es wird die Zeit der Groß- und Schwerindustrie, der Stahlkocher und Lokomotivenbauer. Aber die Hindernisse, die durch den Filz aus alter Aristokratie und wuchernder Bürokratie aufgebaut werden, sind oftmals schier unüberwindlich.

1854 tritt endlich auch Hannover dem preußisch geführten Deutschen Zollverein bei. Von sozialen Reformen ist landauf, landab wenig zu sehen. So ist Kinderarbeit in Preußen zwar verboten; doch betroffen von dem Verbot sind lange Zeit nur Kinder unter neun Jahren. Erst 1854 wird das Gesetz auf Kinder bis zu zwölf Jahren ausgedehnt.

Mit etwas Fantasie kann man sich ein gutes Bild von den Verhältnissen machen, wenn man das Œuvre des Malers Adolph Menzel quasi im Negativ betrachtet. Menzel war ein hellwacher Geist und genauer Beobachter der Zeit. Bis in die beginnenden 1850er Jahre aber malte er vorwiegend Landschaften, Porträts, Genrebilder und viel Friderizianisches: Friedrich II. zu Pferde, mit Flöte, mit dem Maler Antoine Pesne und dergleichen. Zwischendurch auch die Berlin-Potsdamer Bahn (1847) oder zwei Männer, die gerade von ihrem Dreiklassen-Wahlrecht Gebrauch gemacht haben („Die Urwähler“). 1854 schuf Menzel übrigens eine hinreißend charakterisierende Studie des Geigers Joseph Joachim und der Pianistin Clara Schumann bei einem gemeinsamen Duo-Abend. Doch erst in den 1870er Jahren wird Menzel zum Chronisten der Industrialisierung. Auch und gerade das Defizit an Dokumenten, eben das Negativ der Mitteilungen, kann über eine Zeit beredte Auskunft erteilen. Menzels Studien über Fackelzüge der Studenten lassen sich immerhin als ein verborgenes Memento der Barrikadenkämpfe von 1849 lesen: Berlin in Flammen.

Alles in allem war ausgerechnet das Jahr 1853 kein günstiger Moment, um sich als Instrumentenbauer selbständig zu machen. Die Chroniken verschweigen, wie viele es in jenem Jahr 1853 in Berlin dem jungen, tüchtigen Handwerker Carl Bechstein gleichtaten und womöglich schon nach kurzer Zeit ihre Träume unter einem Berg von Schulden wieder begraben mussten.

AUFSTREBENDES BERLIN
Nun war Berlin zweifellos eine Hauptstadt mit einer gewissen Kultur. Es galt noch längst nicht als die Kulturmetropole, die es später einmal sein sollte. Aber hie und da brodelte es sogar. Einige Jahrzehnte zuvor hatten die romantischen Dichter und Denker für heilsame Unruhe gesorgt; sie hatten die Vision von einem „Spree-Athen“ entwickelt. Es war dies eine durchaus politische Vision: so wie Paris sich auf das antike Rom und dessen Imperium berief, so sollte Berlin zum Athen der Neuzeit werden, zu einem Ort der Künste und der Wissenschaften, der Philosophie und der Dichtung. Dem politisch-militärischen Machtanspruch des Empire begegnete man mit dem idealistischen Satz Humboldts: „Wissen ist Macht!“ Und diese Vision wirkte auf eigentümliche Weise fort, übrigens weit über die Mitte des 19.Jahrhunderts hinaus und im Grunde bis tief in die moderne Gegenwart.

Natürlich hatte Berlin um die Mitte des 19.Jahrhunderts auch längst teil am europäischen Zirkus der reisenden Virtuosen. Denn vor allem in Berlins biedermeierlichen Kreisen liebte man nichts so sehr wie die „Musike“. Sie war das kytherische Eiland inmitten unerfreulicher politischer Stürme. Und folgerichtig schätzte man jenes halbautomatische Möbel, das damals beinahe von Jahr zu Jahr immer mehr vervollkommnet wurde und das eine durchaus erlernbare Art der Tonerzeugung ermöglichte: das Pianoforte.

In dieses Berlin nun war Carl Bechstein im Revolutionsjahr 1848, nach anderen Quellen bereits 1846 gekommen und hatte eine Anstellung bei G. Perau am Hausvogteiplatz gefunden. Hausvogteiplatz ist mittendrin. Perau galt neben Kisting als eine ganz feine Adresse und als ein ebenso solider wie konservativer Klavierbauer; beileibe also kein Avantgardist und Tüftler wie etwa der Berliner Theodor Stöcker, dessen etwas schwergängiger oberschlägiger Flügel mit hochklappbarer Tastatur noch heute Bewunderung hervorrufen kann.

Perau nun machte den jungen Bechstein schon im Herbst 1848 zum Werkstattleiter. Lange hat es diesen freilich nicht gehalten. Vermutlich in der zweiten Hälfte des Jahres 1849 ging Bechstein von Berlin aus nach London, um sich genauer umzusehen, und dann nach Paris, wo er bei dem dortigen Pendant zu Stöcker lernte, dem genialen Johann Heinrich (Henri) Pape aus Sarstedt, sowie bei dem äußerst erfolgreichen Elsässer Jean Georges Kriegelstein. Bei letzterem studierte er nicht zuletzt zeitgemäße Unternehmenspolitik und moderne Geschäftspraktiken; dies dürfte ein notwendiges Korrektiv zu den Erfahrungen mit dem erfindungsbesessenen Pape und dessen 120 Patenten gebildet haben.

Kriegelstein produzierte marktgerecht und machte ein Vermögen mit einem sensationell raumsparenden Kleinklavier von etwa 130 Zentimetern Höhe, das er 1842 herausgebracht hatte. Es war berühmt für seine Tonfülle wie auch für das Ebenmaß seiner Register, stellte mithin eine solide Anschaffung dar und wurde entsprechend professionell vermarktet.

Paris war allerdings auch die Stadt des Sébastien Érard, jenes legendären Klavierfabrikanten, der neben vielem anderen die Urform der modernen Repetitionsmechanik ersonnen hatte. Als Bechstein noch bei Perau in Berlin arbeitete, war allgemein bekannt, dass Franz Liszt den Érard‘schen Flügeln vor allen anderen den Vorzug gab. Ob nun der junge Carl Bechstein in Paris in die Nähe von Pierre Érard gekommen war, des Neffen des Firmengründers, der seit 1831 das Unternehmen leitete und 1855 starb, darüber schweigt die Chronik. Über die Bedeutung der Weltmarke Èrard war er sich mit Gewissheit im Klaren. Pierre Érard hatte nach dem Tod seines Onkels Sébastien nicht nur die Pariser und die Londoner Klavierfabrik konsolidiert, sondern das Gesamtunternehmen so weit vorangetrieben, dass die Jahresproduktion in den 1850er Jahren rund 2.500 Instrumente betrug. Die „Salle Érard“ ging als einer der bevorzugten Konzertsäle von Paris in die Musikgeschichte ein. Das Familienschloss „La Muette“ war ein gesellschaftlicher Mittelpunkt ersten Ranges. Dass Carl Bechstein möglicherweise in Paris den Entschluss fasste, es Érard gleich zu tun, darüber kann man nur spekulieren. Gewiss ist immerhin, dass Bechstein in den folgenden Jahrzehnten den großen Namen Érard in seiner führenden Position auf dem europäischen Kontinent beerben sollte.

Wir wissen wenig über diesen Carl Bechstein. Er scheint ein Mann gewesen zu sein, dem jeder Kult um die eigene Person fremd war: Keine Tagebücher aus jungen Jahren; keine „Erinnerungen“ im Alter. Überhaupt wenig Interesse an der eigenen Person. Anderseits zeigen frühe Bilder auch einen äußerst selbstbewussten Mann, eine großgewachsene und auffallende Erscheinung. Als Berliner Jungunternehmer präsentiert er sich neben seinem Klavier in romantisch-langem Mantel über den breiten Schultern. Ein solcher Kerl dürfte in den Pariser Salons kaum unbeachtet geblieben sein.

1852 also geht er wieder nach Berlin und wird diesmal Geschäftsführer bei Perau. 1853 aber wechselt er noch einmal nach Paris, wird Chef bei Kriegelstein, bleibt indes nicht lange, sondern kehrt schließlich nach Berlin und zu Perau zurück. Ein möglicher Grund für die Rückkehr nach Berlin mag eine gewisse Louise Döring aus Straußberg gewesen sein, die er 1856 heiratete.

CARL BECHSTEIN WIRD SEIN EIGENER HERR
Perau hatte in der Behrenstraße 56 ein Magazin. Und dort, ein Stockwerk höher, gründete Bechstein im Nebenberuf nun sein eigenes Unternehmen. Am 1. Oktober 1853 ist er nicht mehr nur Peraus rechte Hand, sondern zugleich sein eigener Herr. Vielleicht war Peraus Erlaubnis, parallel eine neue Werkstatt aufzubauen, von vorneherein ein weiterer Grund für Berlin gewesen. Wahrscheinlicher ist jedoch, dass Perau sich gegen die neuen Ideen sträubte, die Bechstein aus Paris mitbrachte, dass er sich womöglich weigerte, ein neumodisches Piano unter dem Namen „Perau“ herausbringen zu lassen, so dass Bechstein auf eigene Faust versuchte, ein modernes Pianoforte für eine moderne Musik zu bauen. Die Gründung sieht beinahe nach einem Gentleman‘s agreement aus. So offenkundig Bechstein seine ersten Instrumente als „Bechstein“ vorstellte, so wenig ist gesichert, dass er damals wirklich im handelsrechtlichen Sinn eine eigene Firma betrieb. In späteren Dokumenten wird 1856 als Jahr der Unternehmensgründung angegeben.

Die Behrenstraße verläuft übrigens parallel zur Straße „Unter den Linden“ und kreuzt die Charlotten- und die Friedrichstrasse. An der Behrenstraße wurde später zum Beispiel das Metropoltheater gebaut, das 1946 zur heutigen „Komischen Oper“ wurde. Bechstein saß mit seiner Werkstatt also strategisch günstig im neueren Teil Berlins zwischen Oper und Brandenburger Tor, ziemlich nahe an dem Platz, der nach dem „Régiment gens d‘armes“ den Namen „Gendarmenmarkt“ erhalten hatte und wo E.T.A. Hoffmann mehr als einmal bei Lutter & Wegener dem Punsch erlag; nahe auch der Leipziger Straße, wo die Mendelssohns ihr Haus hatten und einige andere wohlhabende und wohlmeinende Familien aus dem Berliner Kulturleben. Wer von dort aus Unter Linden promenieren will, kreuzt rein zufällig auch die Behrenstraße. Carl Bechstein scheint sich in mehrfacher Hinsicht genau überlegt zu haben, wo er seine Werkbank aufstellte.

Mut, Kreativität und Durchhaltevermögen gehören zum Familien-Erbe der Bechsteins
Liest man spätere Chroniken, so scheinen Mut zu eigenen Ideen und praktisches Denken zum Familienerbe zu gehören. 1926 zum Beispiel erschien zum 100. Geburtstag von Carl Bechstein in der Beilage „Rund um den Friedenstein“ des „Gothaischen Tageblatts“ ein Beitrag, der auch auf den familiären Hintergrund einging. Danach waren die Bechsteins seit Jahrhunderten in den thüringischen Dörfern Laucha und Langenhain sowie in den Städten Waltershausen und Ohrdruf als Bauern und Handwerker ansässig. Musikalisches Talent soll in den Familien ausgesprochen verbreitet gewesen sein – Thüringen ist ohnehin eine der musikträchtigen Regionen Deutschlands. Ein gewisser Johann Matthäus Bechstein soll erst Theologie studiert haben, später aber zur Naturwissenschaft umgeschwenkt sein; in Waltershausen gründete er eine Forstakademie, aus der später das Institut in Dreißigacker bei Meiningen hervorging. Johann Matthäus‘ Neffe war jener Schriftsteller und Märchen- und Sagensammler Ludwig Bechstein, der die literarische Rezeption des Mittelalters in Deutschland erst richtig populär machte; er starb 1861 in Meiningen, wo der Herzog ihn als Bibliothekar mit dem Titel eines Hofrats angestellt hatte, was damals eine beliebte Form des Sponsoring darstellte. Ludwig Bechsteins Sicht auf das Mittelalter spielte unter anderem für Wagners Konzeption des „Tannhäuser“ eine entscheidende Rolle.

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